Das Dritte Reich und Tibet
Kaufmann, Wolfgang:
Das Dritte Reich und Tibet : die Heimat des "östlichen Hakenkreuzes" im Blickfeld der Nationalsozialisten / Wolfgang Kaufmann . - 2., aktualisierte und erw. Aufl. - Ludwigsfelde : Ludwigsfelder Verl.-Haus, 2010. - 962 S.
Hochschulschrift. Zugl.: Hagen, FernUniv., Diss., 2008
ISBN 978-3-933022-58-5
EUR 49,80
DDC: 951.5042
Beschreibung
Lange Zeit nahm die Geschichtswissenschaft kaum einmal Notiz davon, daß Politiker, Ideologen, Militärs, Geheimdienstler und Wissenschaftler des Drittes Reiches ein reges Interesse an Tibet gehegt hatten. Stattdessen bemächtigten sich selbsternannte "Kryptohistoriker" aus aller Welt des Themas und setzten zahlreiche substanzlose Gerüchte über eine okkulte "Nazi-Tibet-Connection" in die Welt. Deshalb ist es sehr bedeutsam, daß Wolfgang Kaufmann nun erstmals eine umfassende wissenschaftliche Studie vorlegt, in welcher der Frage nachgegangen wird, was die Nationalsozialisten eigentlich so an dem weit entfernten Himalayareich faszinierte. Dabei wird dann auch gleich zu Beginn mit all den pseudowissenschaftlichen Spekulationen diverser Phantasten und Verschwörungstheoretiker bzw. bekennender Paläo- und Neo-Faschisten aufgeräumt. Es folgen Ausführungen über die Quellenlage sowie den – bisher allerdings weitgehend rudimentären – Stand der seriösen Forschung bis einschließlich Ende 2009.
Kaufmanns Werk, welches in ganz überwiegendem Maße auf umfangreichen Archivrecherchen und der Auswertung zeitgenössischer Veröffentlichungen beruht, beleuchtet dabei ausnahmslos alle Aspekte, unter denen der Dalai-Lama-Staat für die Nationalsozialisten Relevanz besaß. So sahen einflußreiche Ideologen des Dritten Reiches in Tibet ein einzigartiges Refugium, in dem wichtige Bestandteile der "arisch-nordisch-atlantischen Urkultur" überdauert hätten – eine Auffassung, der sich auch der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, anschloß, was für den weiteren Verlauf der Ereignisse von entscheidender Bedeutung sein sollte. Es war nämlich kein Geringerer als eben der Chef der Schutzstaffel, der immer wieder (und durchaus nicht zur Freude Hitlers) propagierte, man müsse bestimmte Elemente der buddhistisch-lamaeistischen Religion Tibets, wie die Reinkarnations- und Karmalehre, in die noch zu schaffende NS-gemäße, also nichtchristliche, Ersatzreligion integrieren. Doch nicht nur deshalb förderte Himmler die Erforschung des "Daches der Welt" von seiten der SS-Wissenschaftsorganisation "Das Ahnenerbe": Ebenso sah er in dem von ihm sehr intensiv protegierten Tibetforscher Ernst Schäfer, dessen Expeditionstätigkeit in dem vorliegenden Werk genauso detailliert zur Sprache kommt wie die des zweiten damaligen deutschen Tibetforschers Wilhelm Filchner, eine wesentliche Schachfigur im polykratischen Duell mit anderen Instanzen des NS-Staates. Und so geschah es dann auch tatsächlich, daß die SS infolge des ungeheuren Taten- bzw. Geltungsdranges von Schäfer und mit Hilfe des von ihm mitgebrachten Tibetmaterials in die Kulturpflanzenforschung und andere als kriegswichtig – ja manchmal sogar als kriegsentscheidend – deklarierte naturwissenschaftliche Projekte einsteigen konnte. Desgleichen gedieh die Tibetologie, d. h., die geisteswissenschaftlich orientierte Beschäftigung mit Sprache, Geschichte und Kultur Tibets, unter Himmlers Ägide ungeachtet aller kriegbedingten Einschränkungen.
Im Zusammenhang mit dem Auftreten von SS-Forschern in der für Ausländer eigentlich gesperrten tibetischen Hauptstadt kam es Anfang 1939 zu ersten zaghaften Annäherungsversuchen zwischen Lhasa und Berlin, die jedoch bald darauf durch den Kriegsausbruch ein abruptes Ende fanden. Nichtsdestotrotz sahen einige verhinderte Strategen im Auswärtigen Amt und der SS-Führung in der Theokratie auf dem "Dach der Welt" einen potentiellen Verbündeten im Kampf gegen die Briten. Hieraus resultierten dann diverse aberwitzige Pläne für bilaterale Militäreinsätze im südlichen Himalaya, die freilich nie zur Realisierung kamen, aber von Kaufmann wegen ihrer symptomatischen Bedeutsamkeit ebenso detailliert beschrieben werden wie die reale geostrategische Situation in und um das offiziell neutrale Tibet. Diese war nicht zuletzt dadurch geprägt, daß Japan, ein wichtiger Verbündeter Hitlers, scheinbar unaufhaltsam auf die Grenzen des Dalai-Lama-Staates zurückte und in diesem Zusammenhang auch eine regelrechte "Operation Tibet" startete. Wie Kaufmann unter Zugrundlegung zahlreicher publizierter und unpublizierter Quellen, aber auch von der Forschung bislang überhaupt nicht rezipierter zeitgenössischer Pressestimmen nachweist, stellte dies für die NS-Führung ein erhebliches Problem dar, denn letztlich sah sich das Dritte Reich ja nicht nur im Kampf gegen die "jüdisch-bolschewistisch-innerasiatische Gefahr", sondern auch im Ringen gegen "Asien" insgesamt. Hieraus resultierte ab 1942 ein neues Interesse am zentralasiatischen Raum bzw. Tibet, wobei es diesmal darum ging, die Regionen im Auge zu behalten, in denen sich die expandierenden Machtsphären Deutschlands und Japans wahrscheinlich einmal berühren würden. Doch damit nicht genug: Das vorliegende Werk bietet gleichermaßen Belege dafür, daß man in Berlin und Tokyo glaubte, dem Sieg über die Alliierten und China werde eine finale Auseinandersetzung (also quasi der Dritte Weltkrieg) zwischen den beiden dann einzig noch verbleibenden Führungsmächten der gelben und der weißen Rasse folgen – eine selbstredend utopische Annahme, welche aber seinerzeit implizierte, die erwähnte Nahtstelle der Machtbereiche zugleich auch als potentiellen Schauplatz des Endkampfes um die alleinige Weltherrschaft anzusehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Reichsführer SS, inzwischen einer der dezidiertesten Befürworter von vorbeugenden Maßnahmen zur Abwehr von Bedrohungen aufgrund der Expansion der Japaner sowie der vermeintlichen Vorstöße "Innerasiens", Anfang 1942 anordnete, sowohl die Asienforschung im allgemeinen als auch die Zentralasien- bzw. Tibetforschung im besonderen "stärkstens" auszubauen, woraufhin dann tatsächlich die Gründung mehrerer entsprechender Einrichtungen erfolgte. Hierbei handelte es sich u. a. um das Schäfersche Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasienforschung in München (hervorgegangen aus der "Ahnenerbe"-Lehr- und Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen), das Ostasien-Institut in Berlin sowie die Arbeitsgemeinschaft Turkestan in Dresden – alles Einrichtungen, welche entweder dem SS-Auslandsnachrichtendienst Schellenbergs zuarbeiten sollten oder gleich der RSHA-Gruppe VI G zugeordnet wurden. Kaufmann bietet eine detaillierte Schilderung der Tätigkeit dieser Institutionen, soweit sie sich auf Zentralasien bzw. Tibet bezog. Dabei weist er unter anderem nach, daß aufgrund der enormen strategischen Wichtigkeit für den NS-Staat praktisch bis "Fünf nach Zwölf" Tibetforschung betrieben wurde.
Ebenso geht das Werk abschließend noch auf die Nachkriegskarrieren der wichtigsten Protagonisten der NS-Tibetforschung ein. Dabei kommt zutage, daß sich die Entnazifizierung selbst unverkennbar belasteter Personen ausnehmend harmlos gestaltete. Andererseits erhielt aber trotzdem keiner der "Mitläufer" die Möglichkeit zu einer bruchlosen Fortsetzung seiner Wissenschaftlerlaufbahn – ausgenommen die Tibetologen Helmut Hoffmann (München) und Johannes Schubert (Leipzig), die damit zu Neubegründern ihres Faches im nunmehr geteilten Deutschland wurden. [Verlagsinformation]
Inhalt
TEIL I: VORBETRACHTUNGEN
1. Einleitung. 11
2. Ein notwendiger vorausgehender Exkurs: Die unwissenschaftlichen Spekulationen über eine angebliche okkulte "Achse" Berlin-Tibet. 19
3. Die Quellenlage im Hinblick auf historische Realitäten. 50
4. Der Stand der seriösen Forschung. 66
5. Methodische Überlegungen. 93
TEIL II: DIE "WELTANSCHAULICHE" RELEVANZ DES PHÄNOMENS TIBET
6. Dezidiert abwertende Interpretationsmuster. 100
7. Hitlers Haltung gegenüber Tibet. 116
8. Die Apotheose Tibets zu einem "Mittelpunkt des arisch-nordischen Kulturgürtels". 120
9. Die Rolle der tibetischen Religion. 143
TEIL III: SCHWERPUNKTE DER PROPAGANDISTISCHEN BEHANDLUNG TIBETS IM ZEITRAUM ZWISCHEN "MACHTERGREIFUNG" UND KRIEGSAUSBRUCH
10. Tibet als kulturelles, politisches und rassisches Phänomen. 183
11. Das "Dach der Welt" im Visier der Großmächte. 185
12. Die Erforschung Tibets: eine Aufgabe fur "Wikinger der Wissenschaft". 188
TEIL IV: TIBET UND DIE WISSENSCHAFTEN IM DRITTEN REICH
13. Die Herausbildung des institutionellen Rahmens der Tibetforschung im Gefolge vorhergehender Feldarbeiten. 195
14. Forschungsfelder. 273
TEIL V: TIBET IM KONTEXT DER NATIONALSOZIALISTISCHEN AUSSENPOLITIK ZU FRIEDENSZEITEN
15. Das außenpolitische Interesse an der Theokratie im Herzen Zentralasiens. 410
16. Die tibetische Haltung gegenüber dem Dritten Reich. 436
17. Die Tibetexpedition von 1938/39 vor dem Hintergrund des deutsch-britischen Verhältnisses. 448
TEIL VI: DIE MILITÄRISCH-POLITISCHE BEDEUTUNG TIBETS ZWISCHEN SEPTEMBER 1939 UND ANFANG 1942
18. Planspiele 1939/40 - Tibet als potentieller Bündnispartner bzw. Basis für Störunternehmen gegen Britisch-Indien. 466
19. Tibet als Bestandteil der territorialen Verhandlungsmasse im Rahmen des ab Mitte 1940 verfolgten Kontinentalblockprojektes. 495
20. Das zeitweilige Desinteresse der deutschen Führung an Tibet ab Ende 1940. 536
TEIL VII: DER STELLENWERT TIBETS IN DER NS-PROPAGANDA ZUR ZEIT DES ZWEITEN WELTKRIEGES
21. Phase Eins: Stillschweigen auf Anordnung Himmlers. 552
22. Phase Zwei: Der konzertierte Medienrummel. 557
TEIL VIII: TIBET, DIE "ASIATISCHE GEFAHR" UND DIE UTOPIE VON DER DEUTSCHEN WELTHERRSCHAFT
23. Ein Dauerthema: Die Bedrohung Europas durch "Völkerwellen" aus Innerasien. 574
24. Deutsch-japanische Interessengegensätze im zentralasiatischen Raum. 593
25. Die Auswirkungen der Erwartung zukünftiger kriegerischer Auseinandersetzungen mit Asien auf die deutsche Tibetforschung ab 1942. 648
26. Japanische Aktivitäten in Tibet zwischen 1942 und 1945 - deutsche Vermutungen und die Realität. 711
27. Spekulationen in der NS-Presse über die politische Zukunft Tibets bzw. Zentralasiens. 718
TEIL IX: DIE DEUTSCHEN TIBETSPEZIALISTEN IN DER ENDPHASE DES KRIEGES
28. Fachliche Aktivitäten. 724
29. Die Haltung der Beteiligten. 732
TEIL X: DIE PROTAGONISTEN DER NS-TIBETFORSCHUNG IN DER NACHKRIEGSZEIT
30. Karrierebrüche, Karrierepausen und Neuanfänge. 736
31. Karriereaufschwünge. 747
TEIL XI: SCHLUSSBETRACHTUNGEN
32. Zusammenfassung. 753
33. Ausblick. 761
TEIL XII: ANHANG
1. Abkürzungsverzeichnis. 762
2. Aussprache von tibetischen Eigennamen und Begriffen. 773
3. Glossar. 777
4. Quellenbezogenes Personenverzeichnis mit biographischen Angaben. 790
5. Quellen- und Literaturverzeichnis. 862
Danksagung. 960
Autor
Der Verfasser des Werkes "Das Dritte Reich und Tibet", WOLFGANG KAUFMANN (*1957), verzichtete in der DDR trotz Abiturs auf einen Hochschulbesuch und betätigte sich statt dessen als Mechaniker, Maschinist usw. Nach der "Wende" studierte er dann Geschichte und Soziale Verhaltenswissenschaften an der FernUniversität Hagen. Dort erwarb er zunächst zwei Bachelor-Abschlüsse und schließlich im Jahre 2000 auch einen Magister-Abschluß. Ende 2008 wurde er dann wiederum in Hagen mit einer Dissertation über das Tibetinteresse der Nationalsozialisten zum Dr. phil. promoviert. Diese Arbeit, welche mit "summa cum laude" bewertet wurde, bildete die Basis für das vorliegende Buch. Kaufmann ist seit 2000 als Lehrbeauftragter für Geschichte an einer sächsischen Universität tätig und unterrichtet an einer privaten Dresdner Bildungseinrichtung als Honorardozent für Psychologie.
Quellen: Ludwigsfelder Verlagshaus; Deutsche Nationalbibliothek; Amazon (Deutschland); WorldCat
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